Hallo liebe Kunstfreunde,
schade, schade, die Sommerferien sind vorbei, und wir müssen wieder arbeiten – und d.h. für mich: ich soll Ihnen etwas aus der Kunstgeschichte erzählen. Sie haben vom Impressionismus gehört, vom Expressionismus, vom Kubismus, vom Dadaismus – die Kunstgeschichte ist voller Ismen und noch mehr Künstlern, die sie begründeten. Jede Kunstrichtung ist nicht nur auf die individuelle Gedankenwelt oder die Idee eines Einzelnen zurückzuführen, sie ist vielmehr geistiges Resultat von Vielen , die sich in einer gleichen politischen und sozialen Situation befinden. Kunst ist nur zu verstehen, wenn man das Umfeld begreift, in dem sie geschaffen wird; wenn man die Menschen und ihr Handeln im historischen Kontext sieht. So sehr ein Künstler Individuum ist und so sehr man ihm auch das Besondere seiner Ideen zuschreibt, so ist er doch seinem sozialen Umfeld und seiner Zeit verhaftet. Das daraus resultierende Denken und Fühlen von Vielen begründet den Ismus, der dann später seinen Protagonisten zugeschrieben wird.
So entstehen in Zeiten gewaltiger Umbrüche und Erschütterungen viele und sich widersprechende Ismen; Ideen und Reaktionen überschlagen sich - auf der Straße ebenso wie auf dem kulturellen Sektor. Insofern spiegelt die Kunst mehr als alles andere die Befindlichkeit einer Zeit.
( George Grosz ) Video
In der letzten Sendung wurde uns klar, dass der Dadaismus eine kulturelle Reaktion auf die Gräuel und Verwerfungen des ersten Weltkrieges war. Er war aber nicht die einzige. Heute wollen wir über die Neue Sachlichkeit reden, eine Stilrichtung in der bildenden Kunst und Literatur, die von 1918-1933 wichtig war. Sie war eine Gegenbewegung zum Expressionismus, zum Kubismus und anderen avantgardistischen Kunstrichtung wie Dadaismus, Surrealismus, Futurismus und Konstruktivismus. Ihr Motto hieß: zurück zum Gegenständlichen. Malerei sollte nüchtern und Illusionslos sein. Warum?
Nun, eine Voraussetzung für das Entstehen der Neuen Sachlichkeit war die Erschütterung des traditionellen Weltbildes etwa durch Albert Einsteins Relativitätstheorie (1905), Max Plancks Quantentheorie (1900) und Sigmund Freuds Untersuchung zum Unbewussten (Die Traumdeutung, 1900). Deren neue Sicht der Wirklichkeit beeinflusste die Autoren der Neuen Sachlichkeit , in ihren Werken die Wirklichkeit „sachlich“ , also objektiv und realistisch darzustellen. Alfred Döblin, der Schriftsteller und Arzt war, hatte bereits 1913 erklärt: „Was nicht direkt, nicht unmittelbar, nicht gesättigt von Sachlichkeit ist, lehnen wir (…) ab; (…) wir sind noch lange nicht genug Naturalisten.“ 1929 schrieb er: „Wenn man ganz ehrlich ist, sagt man heute sogar: man will überhaupt keine Dichtung, das ist eine überholte Sache, Kunst langweilt, man will Fakta und Fakta.“
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Eine andere Voraussetzung war der kranke Zustand der Weimarer Republik. Deutschland hatte den Ersten Weltkrieg verloren, das Kaiserreich hatte abgedankt, es gab jetzt eine Republik mit Parteien und Parlament, aber wenig Demokraten. Zudem stand die junge Demokratie vor erheblichen ökonomischen und sozialen Problemen. Mit dem Versailler Vertrag, den die Nationalversammlung am 22. Juni 1919 auf Druck der Siegermächte annehmen musste, hatte das Deutsche Reich nicht nur große Gebietsverluste hinzunehmen, sondern Deutschland wurde auch zu hohen Reparationszahlungen verpflichtet. In der Folge wurde das Ruhrgebiet besetzt, Banken brachen zusammen, ganze Industrien verödeten. Hinzu kam eine fortschreitende Inflation, die im November 1923 ihren Höhepunkt fand. Dieses Klima stärkte die antidemokratische Opposition auf der Linken ebenso wie auf der Rechten (Kapp-Putsch, Hitler-Putsch); nationalistische, monarchistische, kommunistische Gruppen waren eine ständige Bedrohung für die Demokratie. Auch das Verhältnis der deutschen Länder untereinander war ausgesprochen gespannt. Radikale politische Parteien wurden immer populärer und kämpften gegen die Republik. Viele Künstler standen radikalen Parteien nahe, hauptsächlich der linken, wie z.B. Bertolt Brecht. Am 30. Januar 1933 ernannte Hindenburg Hitler zum Reichskanzler. Die Weimarer Verfassung blieb zwar formell bis zum Ende des Deutschen Reiches in Kraft; mit dem Ermächtigungsgesetz wurde der Weimarer Republik jedoch de facto ein Ende gesetzt und es folgte der Nationalsozialismus. Die Diktatur kontrollierte auch Kunst und Literatur. Zensur, Verbote, Bücherverbrennungen. Jüdische und kritische Werke gab es nur noch im Exil.
Die Weimarer Republik, das waren 15 Jahre Kampf um die Demokratie. Die Streiks, die politischen Kämpfe und die Verarmung der Menschen war vor allem in den Großstädten ausgeprägt. Das Arbeits- und Alltagsleben der Menschen wurde von vielen Kunstschaffenden aufgegriffen, sie wollten die soziale und ökonomische Wirklichkeit darstellen. Keine Fiktion mehr, sondern Realität. Menschen, keine abstrakten Dinge. Die Darstellungsweisen in der Kunst sollten „versachlicht“ werden - und dadurch verständlich sein. In der Literatur gab es Schriftsteller wie Hans Fallada, Lion Feuchtwanger, der „rasende Reporter“ Egon Erwin Kisch oder Alfred Döblin, die mit einer nüchternen Sprache Ereignisse ihrer Zeit im Roman darstellten und die Gesellschaft analysierten. - Und in der Malerei?
1923 versandte der Direktor der Städtischen Kunsthalle Mannheim, Gustav Friedrich Hartlaub, ein Rundschreiben an alle Maler, die "in den letzten zehn Jahren weder impressionistisch aufgelöst noch expressionistisch abstrakt, weder rein sinnenhaft äußerlich, noch rein konstruktiv innerlich gewesen sind ...“. Er suchte Maler, die einer Stilrichtung, welche „ der positiven greifbaren Wirklichkeit mit einem bekennerischen Zug treu geblieben oder wieder treu geworden sind.“ Zwei Jahre später, im Sommer 1925, konnte er mit den Rückmeldungen auf sein Rundschreiben eine Ausstellung ins Leben rufen, der er den Namen "Neue Sachlichkeit“ gab. 124 Bilder von 32 verschiedenen Künstlern hatte er zusammengetragen.
Was waren die Hauptmerkmale dieser Bilder? Was war die Neue Sachlichkeit ?
Bleiben wir zunächst bei einigen stilistischen Auffälligkeiten:
- Wir sehen eine detailgenaue, überscharfe Realität; Menschen, Dinge, alltäglich und unspektakulär. Man nahm die „greifbare Wirklichkeit“ (Hartlaub) als Objekt . Die Darstellung des Alltäglichen und Unspektakulären erfolgte meist in Nahsicht, wie mit einem Tele herausgehoben.
- Die Art der Darstellung war nüchtern und scharf, frei ist von Emotionen und Sentimentalität. Die Bildaussage erhielt so einen dokumentarischen Charakter. Ein statischer Bildaufbau, der Personen wie erstarrt wirken lässt und ohne Licht- und Schattenwirkung auskommt
- Keine Spuren des Arbeitsprozesses bleiben sichtbar. Der Pinselduktus verschwindet komplett unter einer fast metallisch glatten Oberfläche, die den sterilen, luftleeren Charakter vieler Bilder noch verstärkt. Die Farben wurden lasierend aufgetragen, um die Glätte der Farbflächen zu erzeugen.
- Auch wenn die Maler der Neuen Sachlichkeit die o.g. Darstellungsprinzipien teilten, so war ihre Motivation zum Teil konträr. Wie hätte es auch anders sein können angesichts der politischen und sozialen Auseinandersetzungen, die in der Weimarer Republik ausgetragen wurden: Dementsprechend unterscheidet man innerhalb der Neuen Sachlichkeit verschiedene Tendenzen
1. den Verismus, die sozial- und gesellschaftskritische Strömung, die vor allem von George Grosz (1893-1959) und Otto Dix (1891-1969) vertreten wurde. Ihre illusionslosen Bilder zeigen deutlich, wie tief die Kriegserlebnisse die Generation traumatisiert hatten.
Otto Dix hatte den Horror der Schlachtfelder unmittelbar erlebt, als Unteroffizier und MG-Schütze an West- und Ostfront. Dies prägte seine Kriegsbilder der 20iger Jahre. Mit heftigen Bleistift- oder Kreidestrichen, in fahlen oder auch grellen Wasser- und Deckfarben entfalten sich irreal anmutende Landschaften, von Schützengräben und Granattrichtern zerrissen. Geisterhafte Stoßtrupps dringen vor, Geschosse bersten, Leiber werden emporgewirbelt. Leichenberge von nah gesehen, Sterbende starren den Betrachter glasig an, Verstümmelung und Verwesung werden in schrecklichen Details geschildert. Offenbar von traumatischen Erinnerungen heimgesucht, hatte er seit etwa 1920 Kriegskrüppel und menschliche Eingeweide, dann aber mit altmeisterlichem Raffinement das fast makabre Bild „Schützengraben" gemalt.
Sein berühmtes Triptychon "Der Krieg" gilt als eine der herausragenden künstlerischen Stellungnahmen gegen den Krieg im 20. Jahrhundert. Eine nüchterne Bestandsaufnahme seiner Kriegserlebnisse und der nicht aus dem Krieg zurückgekehrten Männer.
Dix selbst bestimmte seinen künstlerischen Standpunkt als den eines Zeitzeugen. Künstler, so meinte er in einem Gespräch von 1958, könnten nicht bessern oder bekehren, denn dafür seien sie zu gering, würden sie zuwenig gesellschaftlichen Einfluss ausüben: "Nur bezeugen müssen sie."
Auf dem linken Flügel sehen wir eine marschierende Truppe. Die Soldaten kommen aus der Tiefe des Bildraums, vollziehen im Vordergrund einen scharfen Schwenk, so dass wir von ihnen nur noch den Rücken sehen, und verschwinden rechts oben im Nebel. In der Mitteltafel breitet sich ein Schlachtfeld aus, eine umgepflügte, "tote" Kraterlandschaft. Zerrissene Körper, Leichenteile, Eingeweide, Schlamm und ein verkohlter Baumstamm beherrschen den Vordergrund. Die schreckliche Szenerie überragt ein auf einen Stahlträger aufgespießter, schon in Verwesung übergegangener, skelettierter Körper eines Soldaten.
Im rechten Flügel malte Dix sein Selbstbildnis. Als Soldat schleppt er einen Kameraden aus der Feuerzone, die sich infolge von Explosionen und Bränden in ein Inferno verwandelt hat. Die Landschaft im Hintergrund ist in einem lodernden Feuerball aufgegangen. Zu Füßen von Dix befindet sich ein weiterer Soldat, dessen Zustand unklar ist. Die Predella stellt schlafende Soldaten in einem engen, mit Holzbrettern verschalten, niedrigen Raum dar, der von einer Zeltplane überspannt ist. Ratten laufen umher.
Der linke Flügel gibt den Marsch in die Schlacht wieder. Es dominieren die Farben Braun und Grau, einzig der Himmel hat einen roten Schimmer. Die Komposition ist so angelegt, als ziehe der Betrachter mit den Soldaten in die Schlacht. Steil ragen die Gewehre aus dem Nebel. Von den Soldaten sind nur zwei, und zwar die beiden, die dem Betrachter ihren Rücken zuwenden, gut sichtbar, während alle anderen durch die dichten Nebelschwaden undeutlich, schemenhaft bleiben. Bei genauerem Hinschauen erkennen wir die Augen von drei Soldaten, doch ihre Gesichter bleiben verborgen. Einer anonymen Soldatenmasse sieht sich der Betrachter gegenüber.
Die endgültige Komposition des linken Flügels - mehrfach vom Künstler verändert - weist Parallelen zu einer Szene aus der amerikanischen Romanverfilmung "Im Westen nichts Neues" auf, wo ebenfalls Kolonnen im Frühnebel in die Schlacht ziehen.
Ein anderes Gemälde mit dem Titel "Flandern", 1936 vollendet, als Dix längst aus einem Dresdner Professorenamt gejagt worden war und am Bodensee Zuflucht gefunden hatte, ließ schlafende Soldaten gleichsam in eine zerschossene Sumpflandschaft versinken. In diesen Kriegsbildern kommen weder Politiker noch Generäle vor, die für den Massentod verantwortlich gemacht werden könnten. Die einfachen Soldaten sind Opfer, aber sie sind auch Täter (beispielsweise bei einem moritatenhaft-grotesken "Überfall auf einen Grabenposten"), und im Bordell lassen sie, wie naheliegend, vollends jede Leidens-Würde fahren.
1916, knapp der Somme-Schlacht entronnen, hatte Otto Dix in sein Feldnotizbuch geschrieben: "Auch den Krieg muß man als ein Naturereignis betrachten." Eine erstaunliche Aussage, lässt sie doch vermuten, dass er über Ursache und Sinn des Krieges nicht nachgedacht hat – was sicher unzutreffend ist. Einige Interpreten seines Werkes versuchten gar, ihm eine Ästhetisierung des Krieges zu unterstellen. Welch ein Unsinn! Wahr ist, dass für den Einzelnen, für das Individuum, der Krieg, wenn man ihm ausgesetzt ist, einem Naturereignis gleichkommt, dem man nicht entgehen kann. Schutzlos sein, ausgeliefert sein, sich durchschlagen müssen, ertragen müssen, was nicht zu ertragen ist – Vernichtung von Hab und Gut, Tod der Familie, der Freunde, Verwundungen und Gräueltaten. Die Gewalt durch Menschen ist schwerer zu ertragen als die Gewalt durch die Natur, glaube ich – und insofern ist der Krieg auch kein „natürliches Ereignis“. Aber er musste an der Front „ertragen werden“. Die Annahme, dass Dix an einem nüchternen Bericht über den Ersten Weltkrieg gelegen war, der nichts verschweigt und lediglich "Fakten" beschreibt, deckt sich mit der von ihm gemachten Aussage, er hätte "beim Malen … nicht die Absicht (gehabt), Angst beim Beschauer zu erzeugen". Weiter erklärte er: "Ich wollte ganz einfach - fast reportagemäßig - meine Erlebnisse der Jahre 1914 bis 1918 zusammenfassend schildern und zeigen, dass echtes menschliches Heldentum in der Überwindung des sinnlosen Sterbens besteht.… Das "Blut fließen zu sehen und die Niedergemetzelten schreien zu hören, den Gestank der Gefallenen riechen zu lassen", diese Wirklichkeit erfahrbar zu machen, schwebte Dix vor.
Also: Wenn es einen Kronzeugen des Pazifismus und einen Kritiker der damals herrschenden Verhältnisse gibt, dann war es Otto Dix.
Etliche Bilder zeigen seinen unverblümten Blick auf die Gesellschaft. Kriegsgewinnler mit Wohlstandsbauch stehen im Gegensatz zur hungernden Masse, die Vergnügungen der High Society im Kontrast zu Prostitution, Verbrechen und Kriegsversehrtheit – nichts wird beschönigt. Brutal, schonungslos und grausam wird das Hässliche auf der Leinwand zur Schau gestellt. Karikierend, Partei ergreifend. Scharf überzeichnend trieb er die Darstellung von Menschen ins Hässliche, in die Nähe der Karikatur und scherte sich, wie er sagte, wenig um das Seelenleben seiner Modelle: "Ich will nur sehen, was da ist, das Äußere. Das Innere gibt sich von selbst." So gibt es Konterfeis properer, abgehärmter oder aufgeschwemmter Huren, namens "Lola", "Hertha" oder "Die kesse Berta" , die er aber nicht "auf ihren Warencharakter reduziert", sondern "als autonome Personen anerkennt".
Ein weiteres Beispiel seiner Gesellschaftssicht ist das dreiteilige Werk Großstadt, das das Berlin der Nachkriegswelt in karikierender Überzeichnung zeigt: die elende Seite, ebenso wie die dekadente.
Der linke Flügel gibt den Blick unter eine Bahnbrücke frei, wo Prostituierte ihre Dienste anbieten. Ein Kriegsversehrter versucht, Kontakt zu einer der Damen aufzunehmen. Doch diese wendet sich ab, blickt mit leeren Augen durch ihn hindurch. Auf dem Kopfsteinpflaster liegt ein betrunkener Mann, von dem keiner Notiz nimmt. Der Blick des wütenden Hundes lenkt den Betrachter in die linke Ecke des Bildes, wo eine weitere Prostituierte vermutlich gerade ihrem Gewerbe nachgeht. Im großen Mittelbild werden die Zerstreuungen der gehobenen Gesellschaftsschicht dargestellt. Eine fünfköpfige Jazzband spielt , und ein Paar tanzt dazu den Charleston, einen der Modetänze der Zeit. Die auffälligste Erscheinung ist die Garçonne, die von rechts ins Bild schreitet. Vorne rechts sitzt ein Paar, dahinter steht eine gelangweilt rauchende Frau. Alle Frauen tragen Unmengen von Schmuck und raffinierte Kleider. Dix porträtiert hier Menschen aus seinem Bekanntenkreis: Der Geiger ist sein Malerfreund Gert Wollheim, der Saxophonspieler ist der Leiter der sächsischen Staatskanzlei Alfred Schulze. Am rechten Bildrand sieht man den Architekten Wilhelm Kreis. Halb hinter dem Fächer verborgen ist das Profil Fritz Glasers zu erkennen, Rechtsanwalt und Mäzen von Dix. Das tanzende Paar sind möglicherweise Otto Dix und seine Frau Martha. Richtig zu amüsieren scheint sich keiner – Dekadenz ist ein Stichwort, das die Atmosphäre beschreiben könnte. Auf dem rechten Flügel des Bildes steigen Edelprostituierte eine Treppe hinauf, bzw. hinunter. Der Kriegsversehrte, der am Fuß der Treppe sitzt, wird von den Damen übersehen. Die fantasievolle Bekleidung der Damen hat karnevalistische Züge , und Dix hat deutliche sexuelle Anspielungen untergebracht. Wie sollte man den Pelz der Dame links anders deuten als zwei Schamlippen und ihre Hand als eine einladende Geste? Der Bildraum wirkt instabil, da Dix dem Betrachter gleichzeitig verschiedene Standpunkte zuweist. Durch die Übergröße der Figuren sowie die übersteigerten Farbtöne entsteht ein Gefühl der Überfüllung. Dix hat hier keine spezifische Lokalität dargestellt, was der Szenerie eine Allgemeingültigkeit verleiht, die sich so in vielen Großstädten der Zeit beobachten ließ.
Otto Dix steht mit seinem Großstadt-Triptychon in der Tradition des englischen Malers William Hogarth, der bereits mit Bilderfolgen wie A Rake’s Progress und Marriage à la mode den Verfall der Sitten der Gesellschaft des 18. Jahrhunderts anprangerte. Auch das Großstadt-Triptychon ist als Kritik an der Vergnügungssucht der Wohlhabenden zu interpretieren. Einerseits. Andererseits huldigt Dix hier auch seinem Lieblingsthema: der Frau. 26 Frauen und 13 Männer beleben das Bild. Während die Männer dunkel und dezent im Hintergrund bleiben, treten die Frauen durch Gestik, Mimik und auffallende Kleidung besonders hervor.
Bürgerliche Moralvorstellungen waren Dix eher fremd, seine Biografie ist durchzogen von Frauen und Geliebten. Das Triptychon zeigt Frauen als Lustobjekte und als Ware in der Konsumwelt der Großstadt. Doch es zeigt auch die Dominanz der Frau über den Mann, die im Zeitalter der fortschreitenden Emanzipation als bedrohlich erfahren wird. Und es zeigt die Abhängigkeit des Mannes, der seinem Trieb folgend, nicht von ihr lassen kann.
Auch Christian Schad (1894-1982), Rudolf Schlichter (1890-1955) und Karl Hubbuch (1891-1979) vertraten die veristische Ausprägung der Neuen Sachlichkeit und waren 1925 in der Mannheimer Kunsthalle zu sehen.
Malte Christian Schad politische Bilder? Nun, den Motiven nach nicht. Schad war ein Meister des kühlen, sachlichen Farbauftrags, er galt als einer der besten Maler der menschlichen Haut. Dafür verwendete er die zeitaufwendige Lasurtechnik. 1927 malte Christian Schad sein Selbstporträt mit Modell, das heute zu den bekanntesten und am meisten reproduzierten Werken des Künstlers und der Neuen Sachlichkeit überhaupt zählt. Schonungslos setzt sich Schad dem eigenen Blick aus; als „Maler mit dem Skalpell“, der seine Modelle und sich selbst mit kühler Sachlichkeit seziert. Sein Blick ist misstrauisch, die Atmosphäre des Bildes unterkühlt, fast eisig. Die dargestellten Personen haben sich nichts zu sagen. Nach vollzogenem Akt ist jeder um sich selbst bemüht, der Mann im Dreiviertelporträt und die Frau im Profil scheinen sich bewusst voneinander abzuwenden. Ein Bezug besteht lediglich im Körperlichen: die Frau ist fast gänzlich unbekleidet, ein angedeuteter roter Strumpf am linken Bildrand und eine Schleife am Handgelenk bilden die einzigen Akzente. Schad selber kleidet sich in ein grünlich-transparentes Hemd, das über der Brust geschnürt ist – ein stärkerer Eindruck, als säße er vollkommen nackt da. Vor einem bühnenhaft verschleierten Hintergrund mit dunklem Himmel und Schornsteinen steht hell eine einzelne Blüte als Symbol für den Narzissmus der Figuren. Die Frau mit ihrem dunklen Pagenschnitt und Seitenscheitel entspricht einem in den zwanziger Jahren populären Frauentypus: weder besonders schön noch abstoßend, entspringt ihre Physiognomie jenem Authentizitätsanspruch, mit dem speziell die Veristen in dieser Zeit das Porträt neu auffassen. Schad berichtete, das Gesicht der Frau sei das einer Unbekannten, die er als Kundin in einem Schreibwarengeschäft gesehen habe. Die Gesichtsnarbe, sei eine Art „Liebesbeweis“: die Frauen in Neapel hätten voller Stolz solche Narben zur Schau getragen, die ihnen vom eifersüchtigen Ehemann oder Liebhaber beigebracht wurden. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurde sein Werk nicht wie das vieler anderer Künstler seiner Generation als „entartete Kunst“ eingestuft, keines seiner Werke wurde konfisziert
2. Zur Neuen Sachlichkeit zählen aber auch Werke eines neuen „Klassizismus“. Als Klassizisten innerhalb der Neuen Sachlichkeit bezeichnet man eine Gruppe von Malern, die sich politisch wenig engagiert zeigte und auch keinen Drang zu gesellschaftlicher Kritik verspürte. Für sie stand die gegenständliche, lasierende Malweise im Vordergrund. Ihre Motive waren Stillleben, Porträts und Landschaften. Abstraktes lehnten sie ab. Zu dieser Gruppe zählten unter anderem Georg Schrimpf, Rudolf Dischinger und Alexander Kanoldt. Diese Künstler waren unpolitisch, wenn man eine solche Aussage gelten lassen will. Ihre Werke waren idealisierend und nicht selten naturbezogen, manchmal kubistisch geprägt, aber sie dokumentieren vor allem die in der Weimarer Republik verbreitete Sehnsucht nach Idylle, die es ja auch gab. Kritische Zeiten sind immer auch Pilcher-Zeiten, …
3. In der Literatur wird der Begriff „Neue Sachlichkeit“ häufig synonym mit dem Begriff „Magischer Realismus“ verwendet. Ich halte das jedoch für falsch. Zwar sind die Begriffe zeitgleich entstanden, aber sie bezeichnen nicht immer dasselbe. Häufig haben die Vertreter des Magischen Realismus nur viel mit den Klassizisten gemeinsam. Ihre Motive ähneln sich, sind realistisch, allerdings wirken sie distanzierter, traumhafter, tiefgründiger. Hinter der greifbaren Wirklichkeit verbirgt sich eine "magische“ Realität. Man kann diese Malerei vielleicht als Brücke zum Surrealismus sehen, aber damit sind wir ja von der Realität, der Sachlichkeit, weg. Franz Radziwill, Richard Oelze und Carl Grossberg zählen zu den wichtigsten Vertretern dieser Gruppe.
Viele Stilmittel der Neuen Sachlichkeit wurden später durch den Sozialistischen Realismus der Ostblockstaaten aufgegriffen.
Liebe Kunstfreunde, nun habe ich doch hauptsächlich über Otto Dix und den gesellschaftskritischen Aspekt der Neuen Sachlichkeit gesprochen, und das andere nur gestreift. Das macht aber nichts, finde ich, denn es war m.E. auch der Wichtigste. Vor allem als Pendant zum Dadaismus, zu Duchamp und den anderen, über die wir in der letzten Sendung sprachen. Die einen verzweifeln an ihrer Zeit, die anderen entfliehen ihr, die weiteren passen sich an. Insofern spiegeln – wie ich anfangs sagte, die Richtungen der Kunst die Entwicklungen in der Gesellschaft wieder.
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