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Hallo liebe Kunstfreunde,
in den letzten Sendungen sprachen wir über den Impressionismus und über Künstlerkolonien, die diese neue Art des Malens hervorbrachte. Nun weiß man aber, dass jede Bewegung keinen Endpunkt setzt, sondern immer bald ihre Antithese schafft, so dass wiederum Neues entsteht. Das gilt auch für die Kunst.
So könnte man sagen, dass die moderne Kunst ab 1900 allein dadurch, dass sie zum Experimentierfeld für neue Farben und Formen geworden war, auch eine neue Funktion erlangt hat. Und dies zu verstehen bereitet dem Publikum Probleme...
– Aber wie kommt ein Maler überhaupt dazu, sich von Gewohntem abzuwenden und herumzuexperimentieren? Etablierte Sehgewohnheiten zu verlassen? Zunächst Nichtverständliches zu schaffen? Warum kann er sich nicht damit zufriedengeben, sich einfach in die Natur zu setzen und zu malen, so gut er eben kann? Darauf ist folgendes zu antworten: Die schlichte Forderung des Laienpublikums „ Malt, was ihr seht“ , ist eigentlich unerfüllbar. Wenn man es genauer betrachtet, hat es dieses „Ich male, was ich sehe“ auch nie gegeben. Denken wir zurück an den primitiven Künstler, der z.B. ein Gesicht aus einfachen Formen aufbaute und gar nicht darstellte, was er sah. Denken wir an die alten Ägypter, die in ihren Darstellungen alles anbrachten, von dem sie wussten, dass es da sei, und sich um das Sehen nicht viel kümmerten. Die griechische und römische Kunst hauchte ihren schematischen Gestalten Leben ein, die mittelalterliche Kunst verwendete Darstellungen, um die heilige Geschichte nachzuerzählen, den Chinesen war die Kunst Mittel zur Meditation. Keiner bedrängte die Künstler zu malen, was sie sahen. Dieser Gedanke tauchte erst in der Renaissance auf. .. So ist der Versuch des Impressionismus, unser „Netzhautbild“ (Pointilismus)auf die Leinwand zu übertragen, auch nicht nur eine andere Art des Sehens, oder eine unzureichende Wahrheit; es ist eine interpretierte Wirklichkeit. - Der aber etwas Wichtiges fehlte…
In den Jahren der künstlerischen Umwälzung, die vor dem Ersten Weltkrieg ihrem Höhepunkt zustrebte, teilten viele junge Künstler eine Begeisterung für die sogenannte Negerkunst aus den Kolonien. Die Meisterwerke afrikanischer Plastiken, die man jetzt in den Museen anschauen konnte, beeindruckte sie stark. Anfang des 20. Jahrhunderts füllten sich Europas Völkerkundemuseen mit Objekten aus Afrika und Ozeanien. Die schlichte und ausdrucksstarke Gestaltung der Masken und Figuren, allesamt mystische Sinnbilder fremder Kulturen, erfüllten die Sehnsucht der Künstler nach einer „neuen Natürlichkeit“. Die Eingeborenen, die diese Masken schnitzten, kümmerten sich offenbar weder um das Ziel der Naturwahrheit noch um das der idealen Schönheit, die beide die europäische Kunst so lange beherrscht hatten. Dafür besaßen sie gerade das, was die Kunst des Abendlandes in ihrer langen Entwicklung verloren zu haben schien – intensive Ausdruckskraft, Klarheit der Formgebung und Schlichtheit der Technik. ( Goethe hat mal gesagt: Alles Geniale ist einfach. Das stimmt. Denken wir an die Einsteins Formel zu Relativitätstheorie E=mc², oder an das Design eines IPad von Steve Jobs. Aber wir wissen auch, was alles hinter dem GenialEinfachen steckt).
Es war eine Zeit im Umbruch. Politisch, gesellschaftlich, kulturell. In der Malerei hatte der Siegeszug der Impressionisten begonnen. Getupfte Landschaften und Gärten, bourgeoise Szenerien. – Wie kraftvoll waren dagegen doch die Plastiken der primitiven Völker? Kraftvoll , indem man den Ballast entfernt, Klarheit durch Verzicht auf alles, was überflüssig erscheint, Schlichtheit der Ausführung – und durch diese Beschränkung auf das Wesentliche den Ausdruck verstärken. Kurz gesagt: Vereinfachen zugunsten des Ausdrucks. Das hört sich einfach an, ist es aber nicht. Wenn man sich heute manche Bilder expressionistischer Maler anschaut, fällt mir immer auf, dass zwar stark vereinfacht wurde, dass dabei bei einigen aber leider auch jeglicher Ausdruck auf der Strecke blieb…
Viele Bilder aus der Zeit gefallen mir sehr, andere nicht. Berühmt heißt nicht automatisch gut.
Expressiv heißt ausdrucksvoll, Expressionismus heißt also Ausdruckskunst. Das Wort ist unglücklich gewählt, denn letzten Endes drücken wir uns in allem aus, was wir tun oder lassen, aber als Stilbezeichnung im Gegensatz zum Impressionismus hat sich dieser Begriff nun einmal eingebürgert. Der Expressionismus – so halten wir fest – ist ein Stil der (europäischen) Kunst zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in dem elementare Erlebnisse (z. B. des Krieges) mit intensiven, starken Mitteln (Farben, Bildern usw) ausgedrückt werden.
Worum es den Künstler damals erstmalig ging, verdeutlicht vielleicht ein Brief, in dem van Gogh erklärt, wie er das Bild eines Freundes malte, der ihm nahestand. Die gewöhnliche Portrait-Ähnlichkeit war für ihn nur der Anfang, der Ausgangspunkt. Sobald er mit dem naturgetreuen Bild fertig war, begann er es absichtlich zu verändern: „ … Ich übertreibe jetzt das Blond der Haare, nehme Orange, Chrom, Zitronengelb; hinter den Kopf male ich statt der banalen Zimmerwand die Unendlichkeit. Ich mache einen einfachen Hintergrund, aus dem reinsten Blau, so stark es die Palette hergibt. Der blonde, beleuchtete Kopf wirkt auf dem reichen Blau wie ein Stern auf blauem Himmel. Ach, lieber Freund, das Publikum wird in dieser Übertreibung nur die Karikatur sehen, aber was machen wir daraus?...“ Van Gogh hatte richtig prophezeit, dass sein Versuch einer ernsten Karikatur, d.h. einer Darstellungsweise, die den Gegenstand verzerrt – nicht um Überlegenheit auszudrücken sondern vielleicht Liebe, Bewunderung oder Angst, - dass diese Darstellung allgemein Anstoß erregen würde. Eine Karikatur ist immer expressionistisch, denn sie spielt mit der Ähnlichkeit und verzerrt den Menschen, um dadurch auszudrücken, was man von ihm hält. Solange solch ein Werk unter der Flagge der Komik segelt, ist das für die Menschen auch in Ordnung, und sie bezahlen auf dem Paseo 10 € dafür. Politikerkarikaturen in Zeitschriften sind auch okay. Aber eine ernst gemeinte Karikatur? Dabei ist der Gedanke nicht abwegig: Es stimmt jedenfalls, dass unsere Gefühle und Empfindungen, unsere Einstellungen zu Menschen und Dingen, unsere Wahrnehmung färben – und vor allem, dass sie unsere Erinnerungsbilder bestimmen. Jeder hat schon erlebt, wie verschieden sich dieselbe Gegend unserem Gedächtnis einprägt, je nachdem, ob wir dort froh oder unglücklich waren. Erinnerungen sind Karikaturen, keine Wirklichkeiten.
Unter den ersten Künstlern, die in der Erforschung dieser Wirkungen noch weiter gingen als van Gogh, war der norwegische Maler Edvard Munch (1863-1944). Eine Lithografie von ihm aus dem Jahr 1895 heißt DER SCHREI. Vermutlich kennt jeder Hörer unserer Kunststunde dieses Bild. Das Blatt will zeigen, wie eine plötzliche Erregung alle unsere Sinneseindrücke verändert. Alle Linien des Blattes führen zu dem Brennpunkt der Erregung, dem schreienden Kopf. Man hat den Eindruck, dass die ganze Umgebung die Angst und Aufregung teilt, die in dem Schrei liegt. Das Gesicht der schreienden Person ist verzerrt wie eine Karikatur. Die starren, verdrehten Augen und die hohlen Wangen erinnern an einen Totenschädel. Irgend etwas Furchtbares muss passiert sein – und das Blatt wirkt um so beunruhigender, weil wir niemals wissen werden, was der Schrei bedeutet, warum er geschieht. Die im Expressionismus oft zum Ausdruck kommende Lebens- und Zukunftsangst wurde bereits hier zum Ausdruck gebracht. Soziales Engagement und innere Empfindungen, also den seelischen Zustand, das Elementare wollte man veranschaulichen. Besonders in Deutschland.
Was das Publikum damals – und wohl auch heute noch – an der expressionistischen Kunst am meisten störte, war nicht so sehr, dass ein Naturbild verzerrt wurde, sondern dass die Schönheit dadurch bedroht wurde. Dass ein Karikaturist die Hässlichkeit eines Menschen herausarbeitete, ließ man sich gefallen, schließlich gehörte das zum Beruf. Aber es erboste die Leute, dass Künstler, die ernst genommen werden wollten, die Natur nicht veränderten, um sie zu verschönern, zu idealisieren, sondern um sie hässlicher zu machen. Aber Munch hätte wohl geantwortet, dass ein Angstschrei eben nicht schön sei und dass es unaufrichtig und verlogen wäre, immer nur die erfreulichen Seiten des Lebens darzustellen.
Die Expressionisten waren so tief vom menschlichen Leid, von Elend, Brutalität und Gewalt erschüttert, dass es ihnen wie ein Verrat an der Wahrheit erschien, in dieser Welt schöne Kunst schaffen zu wollen. 1903 schrieb der Dichter Rainer Maria Rilke in seinem Stundenbuch: Und keiner ahnt die klaffende Grimasse zu der das Lächeln einer zarten Rasse in namenlosen Nächten sich entstellt
Den Expressionisten erschienen die Werke der klassischen Meister als unehrlich und süßlich; sie empfanden viele als kitschig. Man wollte vielmehr den harten Tatsachen unserer Existenz ins Auge schauen und Mitgefühl für die Armen und Ausgestoßenen zum Ausdruck bringen. Ein Beispiel ist das Werk von Käthe Kollwitz (1867 – 1945). Sie empfand tiefes Mitgefühl mit den Armen und Geknechteten und wollte sich für sie einsetzten. Die ersten Werke sind von Gerhard Hauptmanns Theaterstück „Die Weber“ inspiriert, das von der Not der schlesischen Weber in einer Zeit der Arbeitslosigkeit und des sozialen Aufstands handelt. Sie schuf z. B. eine Lithographie mit der Szene eines sterbenden Kindes, dessen Mutter verzweifelt am Totenbett ausharrt. Im Theaterstück selbst gibt es diese Szene nicht. Anders als Millet mit dem Bild „Die Ährenleserinnen“, - über das wir in der letzten Sendung sprachen, dem es erstmals darum ging, ein Gefühl für die Würde der Arbeit zu vermitteln- ging Käthe Kollwitz viel weiter mit ihrer Kunst: Sie wollte die Revolution unterstützen. Kein Wunder, dass ihr Werk viele Künstler und Propagandisten in Osteuropa inspirierte, wo sie und ihr Werk viel bekannter wurden als im Westen. Politische und soziale Fragen bestimmten das Werk vieler expressionistischer Künstler in Deutschland. Der Bildhauer Ernst Barlach (1870-1938) schuf Skulpturen, die das Elend armer Menschen widerspiegelte. Seine Holz-Skulptur „Barmherzigkeit“ z.B. zeigt eine Bettlerin, die einen Mantel über den Kopf geworfen hat, so dass man kein Gesicht sieht. Sie kniet und nur ihre beiden Hände strecken sich bittend unter dem Mantel hervor. Alles, was vom Ausdruck dieser flehenden Hände ablenken könnte, wird unterdrückt. Ein Mantel und flehend Hände, das ist alles, was man sieht. Aber gerade diese Vereinfachung ist es, die unser Mitgefühl auslöst. Ausdruck durch Vereinfachung. Ob solch ein Werk schön ist oder hässlich, ist völlig irrelevant.
Ich habe vor einigen Jahren in Malaga eine Ausstellung mit großformartigen, rein grafischen Bildern von Händen gesehen. Nur Hände, metergroß. Die Bilder stammten von Osvaldo Guyasamin. Hände als Portrait. Man sah, ob die Hand einer Bettlerin gehörte, einem General, einem Sadisten, einem Soldaten oder einem Maurer. Nur durch die Art der Fingerhaltung wurden Charaktere offenbar. Das war für mich das Ausdrucksstärkste, was ich je in einem Museum gesehen habe.
Zu den Vorläufern des Expressionismus zählen die Maler Vincent van Gogh und Edvard Munch sowie Henri de Toulouse-Lautrec. Letzterer spielte eine führende Rolle in der Entwicklung von Plakaten mit Hilfe der Farblithografie, die heute als ein Meilenstein der Werbung angesehen werden. Lautrec verwendete auf großformatigen Blättern wenige Farbsteine in Gelb, Rot und Blau, die durch ihre starken Kontraste auch von der Ferne anziehend wirkten. Die Verwendung der Steindrucktechnik bedeutete Anfang der 1890er Jahre nicht nur den Durchbruch für den Künstler; die insgesamt 351 entstandenen Werke sind es auch, die ihn bis zum heutigen Tag berühmt machten. Natürlich auch wegen der Szenen und Plakate aus dem Rotlichtmilieu, Sex sells, das galt schon damals.
Zu den Vorläufern des Expressionismus zählt auch Paul Gauguin.
Wir werden, liebe Hörer, noch von allen diesen Malern hören. Heute geht es nur darum zu verstehen, warum auf den Impressionismus der Expressionismus folgte. Der Impressionismus hatte sich u.a. der Natur als Thema zugewandt, die Zentralperspektive aufgegeben, die Konturen weitgehend aufgelöst, den Augenblick einer Szenerie eingefangen. Wie haben in einer früheren Sendung darüber gesprochen und die Merkmale benannt. Der Expressionismus nun gab jede Perspektive zum Abschuss frei; keine Farbperspektive war notwendig, nach der weiter entfernt liegende Dinge heller zu sein haben, kein Licht und Schatten; Verzerrungen in Form und Proportion waren erlaubt, sofern sie der Ausdruckssteigerung dienten. Es gab wieder klar umrissene Flächen, oft schwarz umrandet, und geometrische Vereinfachungen; die Farben waren meist ungebrochen und kräftig; sie wurden zu Bedeutungsträgern und dienten nicht einer Abbildung oder einer Stimmungsäußerung. Viel wichtiger war die Bildaussage, der Ausdruck, die subjektive Sicht. Innere bzw. seelische Zustände wurden gezeigt, auch gesellschaftskritische Aussagen gemacht, vor allem in Deutschland. Man nutzte unreale, grelle, reine Farben und flächige Formen, d.h. körperlose Formen; manchmal einfache Formen, wie Kinder sie malen…
Wegen all dieser Merkmale, die nichts Idyllisches, Harmonisches oder Erhabenes mehr zuließen, wurden die Werke der Expressionisten später unter den Nazis als entartete Kunst verboten.
Liebe Hörer,
Vermutlich werden wir uns in der nächsten Sendung mit dem Expressionismus und seinen nachfolgenden Ablegern weiter beschäftigen: Stichwort Brücke-Maler, Blaue Reiter, Kubismus, abstrakte Kunst. Das Problem ist und bleibt immer, dass wir nur Ausschnitte behandeln können und nur aus einem Bereich, der Malerei. Wenn wir vom Beginn des Expressionismus sprechen, müssten wir eigentlich auch einen Blick auf die Architekturentwicklung werfen, auf die Musikgeschichte, auf die Literatur und den Film, bzw. die Fotografie. Wir müssten den geschichtlichen Kontext herstellen, das Kaiserreich betrachten. Keine Kunstrichtung, auch nicht der Expressionismus, entwickelt sich aus sich selbst oder nur aus einer vorhergehenden. Es geht dabei immer um die veränderte Geisteshaltung einer bestimmten Zeit, einer Epoche. Um Einflüsse neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse, z.B. der Psychologie , oder um den Einfluss neuer Erfindungen wie der der Fotografie. Das macht die Kunst so spannend. Sie ist das kulturelle Abbild einer Zeit. Deshalb - bleiben Sie treue Hörer.
Bis dahin gebe ich Ihnen noch ein paar Hinweise:
- Ausstellung im Thyssen-Museum bis 7. Oktober: Die verlorenen Paradiese
(Chronologie vom Barock bis Beginn des 20.Jahrhundert, idealisierte Landschaften u.ä.) Interessant ist vor allem der letzte Teil: Weizenfeld von Renoir, Landschaft von Gaugin, Pissaro, Henri Lebasque, Edmont Cross Di-Do 10-20 Uhr, Wochende 10-21, Mo geschlossen
- Ausstellungssaal Rektorat der Universität, Daniel Quintero
Auswahl von Portraits + einige seiner charakteristischen instabilen Landschaften Malaga, Avd. de Cervantes 2, Mo-Sa 11-14 und 18-21, Eintritt frei
- Galerie Krabbe, Frigiliana , dänischer Maler Arne Haugen Sörensen
bis 2. Juni
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